* 13 *

Der Doppeldünenleuchtturm war ein wackliges Metallgerüst, das am Ende einer tückischen Sandbank stand. Aus der Luft sah er aus, als könnte ihn der kleinste Windstoß umknicken, doch Septimus hatte Leute sagen hören, dass er vom Boden aus eindrucksvoll wirke.
Bei dem Leuchtturm ließ Septimus Feuerspei um etwa fünfundvierzig Grad nach links schwenken und auf die offene See hinausfliegen. Eigentlich brauchte er den Drachen gar nicht zu lenken, weil Feuerspei im Moment beinahe dieselbe Strecke flog wie beim letzten Flug, aber es begeisterte ihn immer wieder, wenn der Drache auf seine Kommandos reagierte. Am Boden hatte er oft das ungute Gefühl, dass der Drache den Ton angab und er nur dazu da war, seine Befehle auszuführen, aber in der Luft waren die Rollen vertauscht. Feuerspei wurde folgsam und lammfromm. Er kam jedem Wunsch seines Reiters nach, ja, er ahnte ihn sogar voraus, sodass Septimus bisweilen das Gefühl hatte, der Drache könne seine Gedanken lesen.
Damit hatte Septimus gar nicht so unrecht. Er wusste nicht, dass ein Drachenreiter – insbesondere, wenn er den Drachen geprägt hatte – seine Gedanken durch das kleinste Zucken jedes Muskels übermittelt. Ein Drache liest den ganzen Körper seines Reiters, und oft weiß er, in welche Richtung der Reiter will, noch bevor dieser es selbst weiß. So war es auch zwei Tage zuvor gewesen, als Feuerspei mit einer sehr aufgeregten Marcia Overstrand ohne einen einzigen Fehler die ganze Strecke zum Foryxhaus geflogen war. Eine beachtliche Leistung, wenn man bedenkt, dass Marcia die einfachsten Drachen-Richtungskommandos durcheinandergebracht hatte. Marcia selbst war natürlich davon überzeugt, es sei ihren angeborenen Drachenfliegerkünsten zu verdanken, dass sie sicher ans Ziel gelangten, doch in Wahrheit war es nur Feuerspeis angeborener Fähigkeit zu verdanken, die Befehle einer Außergewöhnlichen Zauberin zu missachten.
Septimus und Feuerspei flogen über die offene See. Es klarte auf, und die vielen kleinen weißen Wolken verschwanden nach und nach, bis Septimus nur noch Blau sah – den blauen Himmel über und die glitzernde See unter ihm. Er spähte verzückt in die Tiefe, beobachtete, wie sich die Schatten der Strömungen verschoben, sah die dunklen Umrisse der riesigen Wale, die den tiefen Meeresgraben, den sie gerade überflogen, bewohnten.
In zweihundert Meter Höhe war die Spätfrühlingsluft kalt, aber die Wärme, die Feuerspeis Muskeln erzeugten, umgab Septimus mit einem Kleinklima, das durchaus angenehm war – solange er die gelegentlichen Wolken aus heißem, übel riechendem Drachenatem nicht beachtete. Bald lullte das gleichmäßige Auf und Ab des Drachenflugs Septimus ein und versetzte ihn in einen traumähnlichen Zustand. Zaubersprüche schwirrten ihm durch den Kopf, und Drachenlieder klangen in seinen Ohren. So verstrichen mehrere Stunden, bis er plötzlich mit einem Ruck wach wurde.
»Septimus, Septimus ...« Jemand rief seinen Namen.
Septimus setzte sich auf, alarmiert und verwirrt zugleich. Wie konnte hier jemand seinen Namen rufen? Er schüttelte sich und murmelte: »Du hast nur geträumt, du Dummkopf.« Um die Benommenheit in seinem Kopf zu vertreiben, blickte er noch einmal nach unten – und schnappte vor Erstaunen nach Luft.
Weit unter sich sah er mehrere Inseln wie funkelnde Edelsteine im Meer liegen. Eine große Hauptinsel in der Mitte, und darum herum sechs kleinere. Alle waren von einem tiefen, satten Grün, umsäumt von kleinen Buchten und weißen Sandstränden, und zwischen den Inseln glitzerte das zarte Blaugrün des klaren, seichten Meeres im Sonnenlicht. Septimus war verzückt. Auf einmal sehnte er sich danach, auf einem warmen Hang zu sitzen und aus einer Quelle zu trinken, die aus bemoosten Felsen sprudelte. Eine Sekunde lang – nicht länger – spielte er mit dem Gedanken, mit Feuerspei in eine Bucht hinabzustoßen und im Sand zu landen. Als Reaktion darauf ging der Drache in einen Sinkflug über. Sogleich kam Septimus wieder zur Besinnung.
»Nein, Feuerspei. Nein, wir müssen weiter«, sagte er bedauernd.
Feuerspei schwenkte auf den alten Kurs zurück, und Septimus drehte sich um und beobachtete, wie die herrliche Inselgruppe immer weiter zurückblieb. Schließlich entschwand sie seinem Blick, und das merkwürdige Gefühl, etwas Kostbares verloren zu haben, überkam ihn. Er und Feuerspei waren wieder allein.
Drache und Präger flogen weiter bis in den späten Nachmittag. Über ihnen kamen und gingen weiße Wolken, und unter ihnen zog von Zeit zu Zeit ein Schiff seine weiße Spur durch das endlose Kräuselmuster der Wellen, aber Inseln tauchten nicht mehr auf.
Zum Abend hin verdichteten sich die Wolken, bis sie eine dicke graue Decke bildeten. Die Temperatur sank, und die Kälte kroch Septimus bis in die Knochen. Er zog den Wolverinenmantel enger, aber ihm war immer noch kalt. Es dauerte gute zehn Minuten, bis ihm wieder einfiel, dass er auf Marcias Drängen einen Notfallkoffer, wie sie ihn nannte, mitgenommen hatte. Sie hatte ihn höchstpersönlich in schweren Satteltaschen aus Teppichstoff auf Feuerspeis Rücken gepackt. Er enthielt unter anderem sechs hellrote magische Wärmemäntel, die sie zu ihrer großen Freude in Botts Laden für gebrauchte Zauberermäntel entdeckt hatte.
Weitere zehn Minuten lang mühte sich Septimus vergeblich, die Satteltaschen – die Marcia sehr sorgfältig zugeschnürt hatte – zu öffnen, bis es ihm schließlich gelang, mit seinen eiskalten Fingern einen Wärmemantel herauszuziehen. Er schlang das merkwürdig zerknitterte Kleidungsstück um sich, und sogleich durchströmte ihn die Wärme, als nehme er ein heißes Bad, und seine Gedanken begannen wieder zu arbeiten.
Unterdessen wurde es rasch dunkel. Vor sich am Horizont konnte Septimus den dunklen Rand der heraufziehenden Nacht erkennen. Ein Regenguss ging nieder, aber der Wärmemantel war offenbar auch wasserabweisend. Septimus setzte seinen alten roten Filzhut auf, den er vor dem Abflug eingesteckt hatte. Er war mittlerweile ziemlich eng, aber das störte ihn nicht. Mit keinem anderen fühlte er sich so wohl. Nun war er bestens vor Wind und Regen geschützt.
Er richtete sein Augenmerk wieder auf den Horizont. Das dunkle Band der Nacht war breiter geworden, und in dem Band glaubte er eine schwache Lichterkette zu erkennen. Er behielt den Horizont im Auge, und je dunkler es wurde und je näher sie der Lichterkette kamen, desto heller leuchtete sie. Eine prickelnde Erregung erfasste Septimus – sie hatten es geschafft. Sie hatten zum Handelsposten zurückgefunden, und eines dieser Lichter gehörte zu Jenna, Nicko, Snorri und Beetle, die in ihrem feuchten kleinen Fischerschuppen hockten und darauf warteten, dass er sie herausholte. Septimus lehnte sich zurück gegen den Pilotenstachel und grinste. Der Drachenrettungstrupp hatte es wieder geschafft.
Eine halbe Stunde später war die Nacht vollends hereingebrochen, und sie erreichten Land. Feuerspei flog in geringer Höhe und mit hoher Geschwindigkeit an einer sandigen Küste entlang. Der Himmel hatte wieder aufgeklart, und ein abnehmender Dreiviertelmond warf ein silbriges Licht und lange Schatten auf das Festland unter ihnen. Septimus lehnte sich hinaus und sah, verstreut zwischen den Sanddünen, die dunklen Umrisse von Fischerhütten, deren Fenster schwacher Kerzenschein erhellte und vor denen kleine Boote lagen, die man für die Nacht auf den Strand gezogen hatte. Dahinter war die Lichterkette des Handelspostens zu erkennen, die, heller denn je, die lange Reihe der Häfen beleuchtete.
Septimus drosselte das Tempo und ließ Feuerspei noch tiefer gehen. Unten tauchte der erste Hafen auf – Hafen Nummer Neunundvierzig, wenn er sich recht entsann. Da sie aber zu Hafen Nummer Drei mussten, lag noch ein gutes Stück Wegs vor ihnen.
Mit gleichmäßigem Flügelschlag überflog Feuerspei einen Hafen nach dem anderen. Aufgeregt spähte Septimus zu den dunklen Schatten der Schiffe, die an den Hafenmauern vertäut lagen und gegen das Licht abstachen, das Reihen von Laternen und Fackeln auf dem Kai spendeten. Er konnte Scharen von Menschen erkennen, die geschäftig hin und her wuselten, Fracht ein- oder ausluden, feilschten und handelten. Niemand bemerkte die dunkle Silhouette des Drachen oder seinen matten Mondschatten, der lautlos über die Kais glitt. Septimus tätschelte Feuerspei den Hals und flüsterte: »Gut gemacht, Feuerspei, gut gemacht. Wir sind gleich da.«
Der Handelsposten lag an einem geschützten Küstenstrich am Rand jenes großen, weiten Landes, das, neben vielen anderen Wundern, auch das Foryxhaus beherbergte. Im Lauf der Jahrhunderte war er zu einem großen Umschlagplatz des Handels geworden, und nicht nur für die Nordhändler, sondern auch für Kaufleute, die von weiter herkamen. Noch bevor das Eis des Winters schmolz, schleppten Pelzhändler, die tief im Innern der Eislande ein abgeschiedenes Leben führten, ihre langen, schmalen Boote auf zugefrorenen Bachläufen, die sich durch die Wälder schlängelten, zu einem der breiten, frei fließenden Kanäle, die zum Handelsposten führten. Groß gewachsene, hell gekleidete Händler aus den Bergen der Trockenwüsten kamen mit ihren prächtig bemalten Schiffen übers Meer, und gelegentlich sah man sogar Kaufleute aus Ländern jenseits der Östlichen Schneeebenen mit ihren auffallend hohen, spitzen Hüten und ihrer abgehackten Sprechweise, die aus dem allgemeinen Stimmengewirr hervorstach.
Während Feuerspei weiterflog, hielt Septimus nach Hafen Nummer Drei Ausschau. Er war einer der kleineren Häfen ganz am Ende des Handelspostens, unmittelbar hinter dem breitesten Kanal von allen (der, wie es hieß, bis ans andere Ende der Welt führte). Hafen Nummer Drei war an seiner ungewöhnlichen Hufeisenform leicht zu erkennen. Er war kein Tiefwasserhafen, sondern wurde von einheimischen Fischern benutzt, die ihre kleinen Boote an Tauen festmachten, die über den bei Ebbe frei liegenden Sand gespannt waren.
Bald hatte Feuerspei den breiten, windgepeitschten Kanal überflogen, und Septimus erblickte unter sich die ersehnte Hufeisenform. Auf der Suche nach einem Landeplatz begann Feuerspei zu kreisen, aber der Kai war mit Fischkisten und Knäueln von Netzen übersät. Es gab keinen freien Fleck, der für eine Drachenlandung groß genug war, und kein Drache landet gern in der Nähe von Netzen. Grund dafür ist eine tief verwurzelte Angst, mit den Klauen in den Maschen hängen zu bleiben, eine Angst, die auf die längst verflossene Zeit der großen Drachenjagd zurückgeht.
Die Ebbe hatte eingesetzt, und in den Schatten am Rand des Hafens entdeckte Septimus einen freien Sandstreifen, über den keine Leinen gespannt waren. Er lenkte Feuerspei ein paar Hundert Meter aufs Meer hinaus und dann im Tiefflug über dem Wasser wieder zurück. So konnte der Drache elegant nach unten gleiten, bis er schließlich, begleitet von einem dumpfen Schlag und nach allen Seiten Sand verspritzend, aufsetzte. Schnuppernd reckte er die Nase in die Luft und legte dann müde den Kopf in den feuchten Sand, sodass Septimus absteigen und wieder den Fuß auf festes Land setzen konnte. Septimus wippte auf den Füßen, um wieder ein Gefühl in den tauben Zehen zu bekommen. Dann ging er, noch etwas wackelig, zum Kopf des Drachen und rieb ihm die samtige, eiskalte Nase.
»Danke, Feuerspei«, flüsterte er. »Du bist der Beste.«
Der Drache schniefte, und aus dem Dunkel auf dem Kai über ihnen ertönte eine Frauenstimme. »Lass das. Das gehört sich nicht.«
Eine Männerstimme protestierte. »Was soll ich lassen? Ich habe doch gar nichts getan.«
»Ja, ja, das sagst du immer. Aber hier draußen kannst du es nicht auf den Hund schieben.«
Das streitende Paar entfernte sich, und noch bevor es außer Hörweite war, war Feuerspei eingeschlafen. Septimus blickte aufs Wasser. Es war Ebbe, und nach den Hochwassermarken an der Hafenmauer zu urteilen, konnte der Drache hier mindestens sechs Stunden gefahrlos schlafen. Septimus wuchtete Marcias Satteltaschen herunter, entnahm ihnen vier Brathähnchen und eine Tüte Äpfel und legte alles neben die Nase des Drachen für den Fall, dass er später aufwachte und Lust auf einen kleinen Mitternachtsimbiss bekam.
»Warte hier, Feuerspei«, flüsterte Septimus. »Ich bin bald zurück.« Feuerspei öffnete ein trübes Auge, blinzelte und schlummerte wieder ein.
Septimus schulterte die schweren Satteltaschen und stapfte müde die Hafentreppe hinauf. Jetzt musste er nur Nickos Fischerhütte finden.